28. Januar 2023
Von Hannes Schweiger

FR 20. Januar 2023
MenschMaschine
ORCHESTRE NATIONAL DE JAZZ
„EX MACHINA“ feat. STEVE LEHMAN

Frédéric Maurin (artistic direction, comp), Steve Lehman (as, comp), Jérôme Nika (generative electronics), Dionysios Papanikolaou (IRCAM electronics), Erwan Boulay (sound), Leslie Desvignes (lights), Gérard Assayag (Scientific Collaboration IRCAM-STMS)

ONJ: Fanny Ménégoz (fl), Catherine Delaunay (cl, basset horn), Steve Lehman (as), Julien Soro (ts, ss, cl), Fabien Debellefontaine (bs, cl, fl), Jonathan Finlayson, Fabien Norbert (tp), 
Daniel Zimmermann, Christiane Bopp (tb), Fanny Meteier (tuba), Chris Dingman (vibes), Stéphan Caracci (marimba, vibes, glockenspiel, percussion), Bruno Ruder (p), Sarah Murcia (b), Rafaël Koerner (dr)

Es ist über die Maßen erstaunlich, dass sich ein Staat, eine Gesellschaft ein Jazzorchester leistet. Frankreich besitzt diesbezüglich ein Alleinstellungsmerkmal. Nachahmungspotential mitinbegriffen. Denn 1986, unter der Ägide des damaligen Kulturministers Jack Lang, installierte die Republik, dass bis heute bestehende und geförderte Orchestre National De Jazz. In regelmäßigen Abständen wird eine profunde französische Jazzpersönlichkeit mit der Leitung und Ausarbeitung von schwerpunktsetzenden Programmen betraut. Aktuell (seit 2019) leitet Frédéric Maurin den Klangkörper. Betreffend des gegenwärtigen Programmes hat Maurin den amerikanischen Saxophonisten/Komponisten Steve Lehman hinzugezogen. Beide haben ein non-konformistisches Kompositionskompendium erschaffen, in dem ihr Interesse für die Organisationsprinzipien der französischen Spektralisten, eine Komponistenbewegung der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit einer aufgeklärten Jazz-Diktion in Bezug tritt. Ein Hauptansatz ist das Ausloten von mikrotonalen Strukturen und Tonzerlegungen in komplexen Verfahren. Dem ja auch in gegengelagerten Radikalansätzen der Jazzentwicklung seit den 1960er Jahren (frei improvisierte Musik) nachgegangen wurde. Gemeinsam mit der französischen Forschungsvereinigung IRCAM (Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique, von Pierre Boulez Mitte der 1970er Jahre mitbegründet und langjährig geleitet), eine der wichtigen Forschungsstätten für Elektronische/Elektroakustische Musik, wo ein Team elektronische „Maschinen“ mit eigens durchgeführten Spektralanalysen fütterte und ihren eigen analogen Kompositionsansätzen erschufen Lehman und Maurin fraktale Stücke. Jedoch verströmen diese angesichts taktmetrischer Linearität mit verzweigter Akzentuierungsschematik und dringlicher Rockmotorik immer wieder einnehmende Direktheit. Wesentliche Trägersubstanz der Kompositionen sind verzweigt geschichtete melodisch-perkussive Texturen deren Umsetzung den Mallet-Instrumenten obliegen. Untermauert von schubkräftigen, rhythmischen Gesten. Das Metier eines exzellenten Gespanns - Schlagzeuger Koerner und Bassistin Murcia. Sie war die Entdeckung des Ensembles. Ein Ton von exemplarischer Fülle und mit unfassbarem Timegefühl. Entsprechend konnte sich das Formgefüge austoben. Satztechnik und Stimmführung implizieren Klangeindrücke serieller Musik. Klangfarben gründen auf mikrotonalen Harmoniebewegungen, in aperiodischen Abfolgen. Kennzeichnend: brodelnde Binnenstrukturen die vehement nach außen drängen. Grundlegend fußt die DNA der Musik auf der Jazz Moderne, dessen kinetischer Impedanz und dem improvisatorischen Gestaltungswillen. Demnach durchbrechen stets saftige Riffkonzentrationen und Tuttibündel das verschachtelte Ereignissystem. Die elektronisch generierten Klanggewebe sind speziell kollektivbewusst integriert, modulieren den Ensemble-Sound oder treten mit einzelnen Solisten in einen Echtzeit-Dialog. Mikrokosmische Exaktheit und humane „Imperfektion“ generieren hierbei  granularhafte Zustände von zwingender Driftigkeit, in der auch einiges an Unerhörtheit mitschwingt. Das fabelhafte Ensemble, zudem jede(r) einzelne(r) Musikerin/Musiker vorzüglich in der Improvisationskunst, fand die idealen Fährten durch die kniffligen Kompositionen. Lehman und Maurin schufen mit ihren Klangorganisationsexperimenten eine in die Zeit gehörige „maschinengestützte Menschenmusik“ voll kraftvollen Echos.