8. Oktober 2020
Von Hannes Schweiger

MO 05. Oktober 2020
Partielle Ordnungsverhütung
GEORG GRAEWE & SONIC FICTION ORCHESTRA „Fortschritt & Vergnügen“
Georg Graewe (p, cond), Frank Gratkowski (cl, bcl), Maria Gstättner (basson), Sara Kowal (harp), Martin Siewert (e-g, devices), Joanna Lewis (v), Laura Strobl (viola), Cornelia Burghardt (cello), Peter Herbert (b), Wolfgang Reisinger (dr)

Der wohlbekannte alles einschränkende, verzögernde Umstand hat auch Georg Graewes Pläne, vorrangig das  SFO betreffend, einigermaßen über den Haufen geworfen. Das Tondokument über die erste intensive Arbeitsphase des Orchesters, ermöglicht durch die Stageband-Konzertreihe, hätte dieses Frühjahr den Weg zu den InteressentInnen finden sollen. Da jedoch alles anders kam und weiterhin ist, verschob sich die Veröffentlichung und die begleitende Live-Präsentation des inzwischen vom Orchestervorstand/Komponisten teils überarbeiteten und erweiterten Materials um einen entsprechenden Zeitraum. Dieses Abends konnte zu aller Vergnügen das Vorhaben in die Tat umgesetzt werden. In der Reprise zu den Stageband-Performances war unüberhörbar ein weiterer Fortschritt in der musikalischen Inhaltlichkeit einerseits, als auch im Hörbarmachungsprozess der verschriftlichten Tonabfolge durch die MusikerInnen, begleitet von großer Ergriffenheit, auszumachen.

Graewe überführt seine gegenwärtige „Ideenmusik“ strikter in Aggregatzustände, die Klangeindrücke und Strukturbeschaffenheiten der Neuen Musik, speziell aus deren serieller Phase, widerspiegeln. Bedacht genommen darauf, die Konsistenz der Gebilde granularer wirken zu lassen. Bedingt somit, dass die pointilistische Ereignishaftigkeit anhand Graewes Ordnungsprinzips loser gestreut ist. Es entfaltet sich noch dezidierter konkreter Raum in dem der Komponist Greawe zusätzliche Techniken wie Brechungen, Parodie, Montage weiter ausdifferenziert. Die determinierten Materialzustände, in diversen Instrumentenkombination, mehrmals in jener aus Klavier plus Streichinstrumente & Harfe umgesetzt, folgen einer durchlässigen Gliederung und genauer klanglicher Sondierung. Atonalität ist ebenso Verortungsbereich wie das Funktionsgefüge der Tonalität. Faszinierend, ziemlich einmalig ist der Fakt, dass in keinster Weise der Wirkungseffekt von Starrheit aufkommt. Vielmehr möchte man meinen, Greawe  lässt in den Entstehungsprozess der ausformulierten Partituren zuweilen gleichsam Improvisation und Zufall eingreifen. Was sich ja mit seiner permanent lodernden Jazzleidenschaft erklären ließe. Die flammt vehement auf, wenn er sich der Tasten bemächtigt und mit der Haltung freier Improvisation kommuniziert. Einmal mehr vor allem im Verein mit Bass und Schlagzeug – tonal freizügig, metrisch offen. Die beiden musikalischen Erschaffungsprinzipien Konstruktivität und ad hoc-Formulierung streben in Richtung einer nahtlosen Synthese. Mit der Form dieser Syntax bekleidet Georg Graewe gegenwärtig ein fast konkurrenzloses Alleinstellungsmerkmal. Obendrein er der, wie von ihm bereits vor Jahrzehnten formuliert, „gealterten“ Neuen Musik wiewohl auch dem Jazz/der Improvisierten Musik ein relevantes Fortschreiten aufzeigt. Dabei verfolgt er keineswegs neue Bemühungen einer plakativen Verschmelzung beider Systeme im Sinne einer Mischgattung. Er überwand die Differenzen der Systeme und fand fraglos eine zeitgenössische, avantgardistische Koinzidenz. Was für den Schall-Komplex jedoch unabdingbaren Nährstoff bedeutet, sind die Anstöße des Pianisten für die Improvisationen der MusikerInnen auf der einen und die Ausführungen dieser auf der anderen Seite. Grandiose Momente eines/einer jeden umkreisten das kollektive Zentralgestirn – phantasieberauscht und mit eigener Stilkultur, dem Kalkulierten noch  mehr Gravitation verleihend. Emotional gespannt vom energetischen Furor über verwinkelte Melodik, freiperiodische Rhythmik bis zu elastisch modulierter Geräuschhaftigkeit. Graewes Kosmos bietet dafür eine ideale Umgebung. Reglementierte Ordnung kann somit immer wieder vergnüglich reiß aus nehmen. Muss sie, um die Evidenz der Individualität und Wandelbarkeit zu betonen. Auf bemerkenswerte Weise hat sich das Orchester einen Zustand einer Art Metainstrument erspielt. So verinnerlicht und lebenerfüllend handhaben die MusikerInnen mittlerweile die Materialvorgaben. Das lässt Georg Graewe souverän mit dem Klangkörper spielen. In der „Kammerzeit“ wie in Echtzeit. Ein Fortschrittsvergnügen mit potentiellem Wirkungsgrad.