29.5.99

20.30 Christian Muthspiel & Orchester des Bruckner-Konservatoriums Linz


Das zwischenzeitliche Exil des "Porgy&Bess" im RadioKulturhaus macht es möglich, ein 50-köpfiges Orchester auf die Bühne zu bitten und mit diesem und drei ausgewählten Solisten ein sehr spezifisches Programm zu verwirklichen, das die bereits hundertjährige liebevoll-widersprüchliche Passion der komponierten Musik zu den Improvisationskünsten des Jazz aus verschiedenen Blickwinkeln erlebbar machen soll. Am direktesten im Jazz beheimatet ist die 1960 entstandene Suite "focus" des US-amerikanischen Komponisten und Arrangeurs Eddie Sauter (1914-1981), die ursprünglich für den großen Stan Getz als Solisten am Tenorsaxophon komponiert wurde und diesem gewidmet ist. Sauter, der vor allem durch seine jahrelange Arbeit für die Big Band Benny Goodmans bekannt wurde und über den etwa Glenn Miller sagte, er sei "jedem anderen Arrangeur der Szene einfach zehn Jahre voraus", läßt in diesem mehrteiligen Werk einen Jazzsolisten über die fix ausnotierte Basis eines Streichorchesters improvisieren. 1961 bei "Verve" als LP erschienen, ist "focus" ein Meilenstein des orchestralen Jazz geworden und dokumentiert eindrucksvoll eine mögliche Verbindung "klassischer" und "afro-amerikanischer" Musikkultur. Im zweiten Teil der Suite wird das Tenorsaxophon von einem Jazzschlagzeug rhythmisch unterstützt bzw. kontrapunktiert und bietet zusätzlich noch die Möglichkeit eingeflochtener Duo-Improvisationen gleichsam als Interludes zwischen den komponierten Teilen. Seit der Plattenaufnahme 1960 wurde "focus" meines Wissens nie live aufgeführt bis ich nach langer Suche in einer US-amerikanischen Universitätsbibliothek den Nachlaß Eddie Sauters ausfindig machte und voriges Jahr mit dem Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester und den selben Solisten wie heute die ersten Aufführungen seit fast 40 Jahren leitete.

Mein Violinkonzert "Our Motley Mothertongue" ist zwar durchgehend auskomponiert und beinhaltet somit keine improvisatorischen Teile, hat aber in seiner Entstehung und Gestik durchaus einen sehr starken Bezug zu improvisierter Musik. Das 1994 komponierte Werk ist dem Geiger Benjamin Schmid gewidmet, der es 1995 mit dem Mozarteumorchester Salzburg unter Gerard Korsten im Großen Festspielhaus in Salzburg zur Uraufführung brachte und unter anderem 1997 mit dem Radiosymphonieorchester Wien unter HK Gruber auf CD einspielte. Benjamin Schmid und ich musizierten zuvor schon jahrelang im Bereich Jazz/Improvisation/Neue Musik miteinander (hauptsächlich im Trio, zu dem noch mein Bruder Wolfgang Muthspiel an der Gitarre gehört) und entwickelten aufgrund dieser gemeinsamen improvisatorischen Arbeit Grundzüge des Violinkonzertes gemeinsam. Aus kammermusikalischer Improvisation entstand also der Wunsch, ein Orchesterwerk zu realisieren, welchem die überaus flexible Musikerperson Benjamin Schmid Grundlage und "Maßstab" war. Zusätzlich schafft die "5-string electric violin" in bezug auf den Sound des Solisten im vierten Teil des Konzertes eine weitere Verbindung zur Klangwelt des Jazz.

Wie viele Komponisten seiner Generation war Darius Milhaud von den unterschiedlichen Formen und der Vielfalt afro-amerikanischer und lateinamerikanischer Musik außerordentlich fasziniert und versuchte in einer Reihe von Werken sehr ernsthafte "europäische" Annäherungen an diese Klangwelt. Eines davon ist das 1919 entstandene Orchesterwerk "Le boeuf sur le toit" ("Der Ochs auf dem Dach"), ursprünglich als musikalische Begleitung für eine Charlie-Chaplin-Stummfilmkomödie konzipiert und als "klingendes Andenken" an einen einjährigen Aufenthalt Milhauds in Brasilien während des Ersten Weltkrieges komponiert. Während dieses Jahres bereiste Milhaud als Attachè der französischen Gesandtschaft das ganze Land gemeinsam mit dem Dichter Paul Claudel, der damals französischer Gesandter in Brasilien war. "Le boeuf sur le toit" entstand vornehmlich unter dem Eindruck der Musik des brasilianischen Karnevals, der unzähligen Bands, die mit ihren Sambas, Tangos, Maxixen oder Fados nächtelang durch die Städte zogen und in ihrem Rhythmus- und Melodiereichtum die ungeheure Lebendigkeit und Farbenvielfalt lateinamerikanischer Volksmusik, die ja eine der wichtigsten Komponenten zur Entstehung des Jazz darstellt, zum klingen brachten. Die Uraufführung des Werkes war nicht zuletzt wegen der von Jean Cocteau konzipierten pantomimisch-szenischen Umsetzung ein überragender Erfolg im Paris des Jahres 1920.
(Christian Muthspiel)

Eintritt: ATS 200.-/220.-
PORGY & BESS, GRAF STARHEMBERGGASSE 1A/7, 1040 Wien, Tel.: +43-1-5037009