23. Januar 2019
Von Hannes Schweiger

SO 20. Januar 2019
Form und Ungewissheit
GEORG GRAEWE & SONIC FICTION ORCHESTRA
Georg Graewe (p, cond), Frank Gratkowski (cl, bcl), Maria Gstättner (basson), Robert Dick (fl, b-fl), Sara Kowal (harp), Martin Siewert (e-g), Joanna Lewis (v), Melissa Coleman (cello), Philipp Kienberger (b), Wolfgang Reisinger (dr)

Klappe, die Fünfte. Erstens: personelle Umstellungen an den Positionen Cello und Bass bzw. die übliche Posaunenstelle wurde für dieses Mal von dem amerikanischen Flötenvirtuosen Robert Dick ausgefüllt. Zweitens: Georg Graewe spielte genüsslich mit den Hörerwartungen. Überraschend brachte er zu Beginn Texturen von sperriger Flächigkeit, denen ein diffuses Ambiente eigen war ins Spiel. Unwegsames Terrain, von Schallfurchen durchzogen, die zu abrupten Abkehrungen veranlassten. Zueinander in Bezug stehende, unharmonische Motivkürzel einzelner Instrumente/Instrumentegruppen formten sich daraufhin zu mosaikartigen Brechungen, die wiederum den Raum flutende, flächige Verklausulierungen affizierten. Texturiert als kontemplative Ausdehnung, ausschließlich getragen von einem kollektiven Geist. Konzipiert hatte Graewe die strikt ausgefertigten Verlaufsstränge mit einer klar strukturierten Logik. Dennoch, bei aller Komplexität des Gefüges, achtet Graewe immer auf die Bewegungsenergie als belebende Konstante. Das belegt seine Gabe eine organische Korrelation jazzidiomatischer Rhythmusauffassung mit Formprinzipien der komponierten Avantgarde eben nicht nur anregen, sondern auch explizit entwerfen zu können. Noch dazu mit solch kreativen, nach allen Seiten offenen MusikerInnen im Verbund zu stehen, verleiht der Umsetzung etwas Rauschhaftes. Teil eins der Präsentation transportierte Schwingungen, die die Hörerschaft aus dem Erwartbaren herausrissen. Zudem war der Ensembleklang durch die reine Holzbläser-Sektion summa summarum abgerundeter. Im zweiten Teil, der mit  schlicht schönen Harmoniefortschreitungen seinen Anfang nahm, standen wieder die frei improvisierten Ideenflüsse im Mittelpunkt. Solo, Duo oder Trio, unbegleitet oder vom restlichen Kollektiv mit präzise entworfenen, feinfasrigen Abstraktionen unterfüttert. Maria Gstättner und Frank Gratkowski kosteten in einem kaum inbrünstiger möglichen aber beherrschten Dialog den Reiz der Konstellation Fagott/Bassklarinette bis an die Grenzen der Klangerzeugung aus. In seinem Feature präsentierte sich Robert Dick als der Neuerer des Flötenspieles schlechthin und versetzte in Staunen. Nicht nur, dass er bis dato unbekannte Spieltechnikerweiterungen musikalisch zwingend einsetzte, hat er auch das Instrument an sich mit einer speziellen beweglichen Konstruktion im Mundstückbereich, was ihm ein effektiveres Erzeugen von Glissandi ermöglicht, bereichert. Ein solch sagenhaftes Flötensolo mit derartigem Klang-/Geräuschreichtum und einer Sensibilität für Intensitätsniveaus hat man noch nicht gehört.

Als Assemblage moussierender Motive angelegt, in Cluster oder nonkonforme Mehrklänge gebündelt, begab sich Graewe mit Kienberger und Reisinger auf eine blindfliegende Trioimprovisation von gewohnt geschmeidiger Rasanz und perlender Fantasie. Joanna Lewis rührte mit einem imaginativen Geigensolo, irisierend im Ton. Substitut-Bassist Kienberger ist ebenso ein hervorragender Arcospieler, was er sowohl solistisch als auch im Kollektiv, dort verantwortete er in Korrespondenz mit den anderen Streicherinnen eine dichtere Klanglichkeit, klarlegte. Final ging Martin Siewert durch die Decke. Fulminant im Zuge einer nonidiomatischen Entladung – zwischen grell und herb, klirrend zugespitz und distroted at it´s best. Auch hier, wie in den meisten Situationen war Wolfgang Reisinger der rhythmische Brennpunkt. Agogisch meisterlich, zumeist frei akzentuierend, klangfarblich erlesen – einen unwiderstehlichen Drive auslegend. Zusammengehalten in einem elastischen Arrangementnetz in dem Form und Ungewissheit essentielle Komponenten sind. Georg Graewe hat, den musikalischen Kosmos als Einheit verstehend, einen Berg versetzt. Wenn man Kategorisierungen bemühen möchte, ließe sich sagen: Der Third Stream ist zum New Stream mutiert.