3. Juni 2018
Von Hannes Schweiger

SA  02. Juni 2018
The Philosophers Tone – Sextet(Vienna)2018
ANTHONY BRAXTON SEXTET
Anthony Braxton (as, ss, ssi), Taylor Ho Bynum (tp, flh, tb), Adam Matlock (acc), Dan Peck (tuba), Jacqueline Kerrod, Miriam Overlach (harp)

So sehr Braxton von Anbeginn an polarisierte, was eigentlich nur für seine visionären Innovationen – von instrumentaltechnisch über konzeptionell bis besetzungsmäßig- spricht, er ist eine der hervorstechenden Lichtgestalten und Neuerer der Nachwelten der Free Jazz-Kosmologie des 1960er Jahrzehnts. Wie kein afro-amerikanischer Musiker vor ihm adaptierte Braxton gestalterische und notatorische Verfahren der euro-amerikanischen Neuen Musik für sein jazzbasiertes Klanguniversum untern der Prämisse eines afro-amerikanischen Improvisators. Mit einem kompromisslosen Selbstverständnis entwickelte und etablierte der Multiholzbläser eine analytisch ausgetüftelte musiktexturelle Assemblage, die Serialistik bzw. Aleatorik mit jazzidiomatischer Freitonalität auf bis dato nicht gehörter Weise in Beziehung setzt. In diesem singulären Musiksystem bewegt sich Braxton vorbehaltlos und über die Maßen gewandt. Gleichfalls seine Stilistik, dezidiert auf seinem Hauptinstrument dem Altsaxophon, erinnert sei an einzigartige Solo-Konzerte bzw. Tonträger bei denen ausschließlich dieses Instrument im Fokus stand, erforschte der Musiker mit Akribie und fast archäologischem Tiefgang, bezogen auf das Jazzkontinuum. Herausgebildet hat Braxton eine solitäre Spielweise mit den unverkennbaren Charakteristika: stakkatohafte Artikulation, quecksilbrige, splittrige Phrasierung, scharfe Tonbildung und weite Intervallsprünge. Zudem hat er sein musikalisches Tun mit einer musik-anthropologisch fundierten Philosophie ausgekleidet, womit er sein Schaffen in eine universelle musiktheatralische Metaphysik taucht. Ein Umstand der ihm ein ewiges Außenseitertum bescherte. Mit dem er sich jedoch bestens arrangiert hat. Dass nun der Ausnahmemusiker Braxton sein komplexes, vielschichtiges Klangwerk nach längerem hierorts wieder zum Erleben anbot, schraubte die Hochspannung und Vorfreude in die Höhe. Beides war berechtigt. Zudem traf es sich ungewollt perfekt mit den ganzen Reminiszenzen betreffend des Jahres 1968. Tätigte Braxton doch in diesem ein substantielles musikalisches Statement. Zurück ins Jetzt: Lange schon war man sich einer solch feinstofflichen, abenteuerlich verzweigten, vielschichtigen, abstrakt unmittelbaren Ästhetik nicht mehr gewahr. Erneut hat Braxton aktuell, wie nicht anders zu erwarten, ein unkonventionell besetztes Ensemble formiert. Faszinierend, wie er die Diversitäten der Klangeigenheiten der Instrumente verschränkt, als würden sie einem Rhizom entspringen. Hat sich Braxton in der jüngeren Vergangenheit ausführlich mit einem repetitiven, minimalistisch sich fortbewegenden Konzept, Ghost Trance Music genannt, beschäftigt, verfolgt er nun wieder verstärkt sein Konzept unabhängiger Klangereignisse, erweitert um komponierte wie improvisierte Schichten. Alles simultan anwendbar – angespornt von eminenter rhythmischer Flexibilität in gefinkelt ausgelegtem Rubatotempo. Oftmals ausgehend von einem kollektiv verorteten, bizarren, stehenden Akkord mit bizarren Obertonschwingungen, entwickelten die beiden ausgedehntem Kompositionen eine ergiebige Polytonalität und –rhythmik, die sich ständig zu aufregenden Verschiebungen zwischen vertikalen und horizontalen Texturen verdichteten. Doch bei Braxton heißt Verdichtung, eine fragile Durchhörbarkeit zu bewahren. Feine dynamische Polaritäten ergaben auch die periodisch auftretenden Duo-Konstellationen, wobei das Harfen-Duett von besonderer musikalischer und konzeptioneller Güte war. Abgesehen von jenen, sowohl vor dem Kollektiv als auch in kurzer Dualität angezettelten,  hypnotischen Diskursen von Braxton und Ho Bynum. Braxton hat sein kantiges Spiel merklich abgerundet und bodenhaftender angelegt, wodurch die Legierung aus Bebop-Interpolationen, klangenergetischen Exaltiertheiten und tonal verankerten, melodischen Chorussen ein geschmeidigeres Fließgefüge erlangte. Famos setzte er Akzente abwechselnd auf Altsaxophon und den beiden Sopraninstrumenten und gestaltete seine Improvisationen mit zentrierter Stringenz. Sein trompetender Partner und zweiter Hauptsolist fügte anreichernde Kontrasubjekte in Form offener Klangkonzentrate oder melodischer Entladungen mit sensibler Werkverbundenheit hinzu. Das unterstreicht Braxtons Kunst der außerordentlichen Synergie von kompositorischer Determination und improvisatorischer ad hoc Darstellung. Stets in Verbindung mit jazzspezifischer Narrativik. Seine derzeitigen Klangplanungen implizieren eine verschachtelte Architektur die durch ihre Plastizität und Klarheit der Form stets erfahrbar bleibt. Denn Braxton erdenkt nichts abseits von Formgebung & Funktionalismen. Sie sind nur betont anders und pan-traditionell in der eigenen Konformität konzipiert – fraglos mit Präsensbefund.

P.S.: Dass zudem einige inländische Veranstalter die mit Braxton vormals kooperierten, ihm an diesem Abend die Ehre erwiesen, war eine schöne Geste. Befremdlich war allerdings das weitgehende Desinteresse der heimischen Printmedien an einer derart wegweisenden Persönlichkeit der Gegenwartsmusik.